ENDLICH. ENDLICH WAR es vorbei. Endlich Ruhe
Matt und mit schwirrendem Kopf ließ sich Joshi auf sein Bett fallen und versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Dieser Abend war der Horror gewesen, absolut furchtbar. Wieso nur hatte er sich darauf eingelassen? Er war sich sicher: Das war das erste und letzte Mal gewesen.
Unruhig drehte er sich in seinem Bett hin und her, den Blick in die Dunkelheit seines Zimmers gerichtet. Er wusste selbst nicht genau warum, aber hin und wieder brauchte er diese Schwärze um sich herum. Diese undurchdringbare Finsternis half ihm, die Wände auszublenden und somit dem Gefühl zu entgehen, sie kämen immer näher. Hier gab es nur ihn. All- mählich kam er zur Ruhe, seine Gedanken ordneten sich. Wurden klarer und holten ihn einmal mehr ein:
Nach der Uni war er zur Bar gefahren, um sich dort mit seinen Freunden zu treffen. Es sollte ein netter Abend in ihrer Lieblingsbar werden, wie sonst auch, nur mit ein wenig Livemusik. Doch dann war ein Künstler abgesprungen, der Moderator hatte nach einem Freiwilligen aus dem Publikum gefragt und noch ehe er wusste, wie ihm geschah, hatten ihn Johannes und Erik auf die Bühne geschoben. Er hatte in all die Gesichter gesehen, die erwartungsvoll zu ihm aufgesehen hatten, während sich in seinem Magen ein Stein bildete. Plötzlich überkam ihn das Bedürfnis, sein Abendessen von sich zu geben; gut, dass er nicht all zu viel davon gegessen hatte.
»Wie ist dein Name?«, fragte der Moderator und schaute ihn abwartend an. Joshi versuchte zu lächeln und sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn all das überforderte.
»Joshi, aber ich …«
»Nun denn Joshi, brauchst du ein Instrument, oder was wirst du heute für uns machen?«
Nichts, wollte er am liebsten schreien, doch seine Füße waren wie festgeklebt, in seinem Nacken sammelte sich kalter Schweiß. Diese Gesichter. Diese Menschen. Bekannte. Unbekannte. Freunde. Feinde. Gerade als er das Gefühl hatte, sich nun wirklich übergeben zu müssen, rief irgendjemand im Publikum: »Gebt ihm eine Gitarre!«, woraufhin er plötzlich einen hölzernen Griff in der Hand hielt. Sein Herzschlag wurde langsamer, das hier war vertraut. Doch innerlich zitterte Joshi wie Espenlaub. Sah denn niemand, wie viel Überwindung es ihn kostete, wie sehr er von hier weg wollte? Nein, natürlich nicht. Weil die Menschen eben nur sahen, was sie sehen wollten.
Das Mikro quietschte, als er es auf die richtige Höhe ein- stellte und ihm wurde noch heißer. Sicher lachten sie wieder alle über ihn. Egal, nicht nachdenken, befahl er sich.
Mit einem tiefen Atemzug begann er, an der Gitarre zu zupfen und damit rückten die Gespräche und Gesichter der Menschen vor ihm in den Hintergrund. Musik, sein Zufluchtsort. Wie oft hatte sie ihn schon gerettet? Musik bewertete nicht, Musik verstand. Sie nahm Emotionen auf und verwandelte sie in Harmonien. Mit jeder Note ließ Joshi weiter los, bis er sich so weit abgeschottet hatte, dass er seine Umgebung nicht mehr wahrnahm und einfach sang. Er war umhüllt von Klängen und Tönen die seine Ängste von ihm nahmen, wie sie es immer taten. Musik, sein Zuhause.
Erst als die letzten Töne verklungen waren, öffnete Joshi seine Augen wieder, landete zurück im Hier und Jetzt. Sah in die vielen Gesichter vor sich, spürte die Panik aufkommen und eilte von der Bühne. Bloß weg hier. Die Menschen klatschten und jubelten, aber sie waren sicherlich nur höflich. Sein Mund war trocken. Mit zitternden Fingern drückte er irgendjemandem die Gitarre in die Hand und schob sich durch die Menschen Richtung Tresen. Er musste dringend etwas trinken. Wasser. Wasser war immer gut.
Wie ein Schiffbrüchiger an das Rettungsseil klammerte er sich an sein Wasserglas und stürzte es in wenigen Schlucken hinunter. Was die Leute sagten, bekam er gar nicht mit. Wie dankbar er war, dass er seinem Vater versprochen hatte, Nele früh genug nach Hause zu bringen. So schnell er konnte verließ er die Bar. Er brauchte frische Luft.
Der kühle Wind streichelte seine überhitze Haut. Katja, Erik und all die anderen folgten ihm nach draußen und redeten wild auf ihn ein. Das Lächeln, das er ihnen schenkte, war hart wie Stein.
»Was in aller Welts Namen sollte das?«, fragte er und funkelte seine Freunde an. Verwirrt blickten sie sich einander in die Gesichter.
»Na wir dachten …« begann Erik, wurde aber gleich unterbrochen.
»Gar nichts dachtet ihr!«
»Mensch Joshi, stell dich nicht so an. War doch alles super da drin. Du hast die Hütte gerockt, wie nicht anders zu erwarten. Das war deine Chance, die mussten wir nutzen. Ist doch nichts dabei.«
Joshi wollte erneut darauf antworten, als Nele von hinten auf seinen Rücken sprang.
»Mensch Joshi, wir cool war denn das? Hätte nicht gedacht, dass du sowas machst aber das war mega. Hast du gehört, wie die abgegangen sind?«
Wie so oft schon in seinem Leben schluckte Joshi also nun einmal mehr seine Wut und den Frust herunter und schwieg.
»Du weißt eben nicht alles von mir«, sagte er nur, zog sich seine Schwester vom Rücken und nahm sie spielerisch in den Schwitzkasten.
»Mein Schwesterlein muss dann mal ins Bett. Wir sehen uns die Tage, Leute. Haut rein!«, rief er seinen Freunden noch zu, wandte sich um und verschwand. Zu seinem Glück war Nele unkompliziert und ging widerstandslos mit. Auf dem Heim- weg redete sie ununterbrochen von dem Abend, aber Joshi hörte gar nicht zu. Wie in Trance fuhr er mit dem Fahrrad den altbekannten Weg. Bloß weg.
Als plötzlich ein schwacher Streifen Licht an seiner Zimmer- wand erschien, drehte sich Joshi zur Tür. Isabelle stand dort und knetete unsicher an dem Saum eines seiner alten T-Shirts, die sie oft zum Schlafen trug.
»Hey Isi, was ist los?«, fragte Joshi rau.
»Ich kann nicht schlafen, wegen dieser Sache, die Nele er- zählt hat. Und als ich gehört habe, dass ihr wieder da seid ….«
Langsam richtete sich Joshi auf und streckte ihr eine Hand hin. Seine Haare waren noch nass vom Duschen und eigentlich hatte er sich darauf gefreut, endlich schlafen gehen zu können, um seine wirren Gedanken in der dunklen Nacht zu ertränken. Aber seine kleine Schwester schien ihn jetzt zu brauchen und irgendwie erleichterte ihn das. Ablenkung, das hatte er in all den Jahren gemerkt, half.
»Komm her.«
Isabelle schlurfte mit gesenktem Kopf auf Joshi zu, krabbelte unter seine Decke und drückte sich fest an ihn.
»Da passiert nichts, hörst du? Nele hat doch selber zugegeben, dass sie gar nicht richtig zugehört hat. Denk nicht so viel darüber nach, sondern lieber über tolle Dinge, die du getan hast, oder tun willst. Wie war es wirklich in der Schule? Was hast du heute Abend noch gemacht, als ich weg war?«
»Nichts. In der Schule ist es total doof, alle sitzen immer nur rum und starren auf ihre Handys oder reden über Klamotten. Der Unterricht ist langweilig, aber verstehen tue ich auch nichts. Und nach dem Abendessen hat Nele sich zum Üben in ihr Zimmer verzogen bis sie zu dir gefahren ist und Papa hat diesen Krimi im Fernsehen geguckt.«
»Gab es denn gar nichts Schönes heute?«, fragte er weiter. Ihre Traurigkeit übertrug sich auf ihn, drückte ihm auf die Seele. Zu sehen, wie schwer sie sich damit tat, sich zu integrieren, tat weh und erinnerte ihn an sich selbst. Das machte ihm Angst.
»Nein. Na ja doch. Das Mathelernen mit dir. Das war schön.«
»Das glaube ich dir nicht«, antwortete Joshi und lachte, was seiner kleinen Schwester ebenfalls ein Schmunzeln auf die Lippen lockte. »Was hast du denn dann in deinem Zimmer gemacht?«
»Gelesen.«
»Und das Buch ist gut?«
»Ja, sehr. Die Hauptfigur ist richtig toll und lässt sich nicht von anderen reinreden. Und sie muss in diese Welt reisen und da sind richtig coole Pflanzen und die Wesen, denen sie begegnet, sind mega witzig und helfen ihr ganz viel. Und ihre beste Freundin ist auch dabei. Da sind richtig spannende Szenen drin aber auch viele Stellen zum Lachen und ich bin richtig gespannt wie das Ganze ausgeht. Ich muss noch knapp 150 Seiten lesen, das schaffe ich bestimmt morgen. Am liebsten würde ich im Bett bleiben und nur lesen, damit ich endlich das Ende erfahre. Aber ich hab auch Angst davor, wie es ausgeht.«
Joshi lachte auf.
»Na siehst du, dann hast du heute ja doch etwas Tolles gemacht. Warum denkst du denn nicht an die Geschichte, wenn du im Bett liegst, und stellst dir vor, wie es weitergeht?«
»Das kann ich nicht. Es funktioniert nicht. Ich bin ja nicht so wie die Figuren im Buch. Sie sind immer so mutig und haben gar keine Angst.«
»Weißt du Isi«, murmelte Joshi und ließ sich zurück in sein Kissen sinken, »Mut bedeutet nicht, keine Angst zu haben, sondern etwas zu tun, obwohl man Angst hat.« Er wusste genau, wovon er sprach. Und dennoch wurde auch er manches Mal von seinen Ängsten förmlich in die Ecke gedrängt. Niedergestreckt von seinen dunklen Gedanken. Es war noch nicht einmal eine halbe Stunde her … Isabelle holte ihn aus seiner Trance zurück.
»Joshi? Spielst du mir was auf der Gitarre vor?« Überrascht drehte er den Kopf, sah das bittende Gesicht seiner jüngsten Schwester und wusste bereits, dass er nachgeben würde.
»Jetzt noch?«
»Ich hör dich so gern spielen, bitte!«
»Also gut«, seufzte er. Das hier war anders als in der Bar. Für seine Familie hatte er noch nie ein Problem gehabt zu spielen. »Was willst du denn hören?«
Das Leuchten, das sich seinen Weg zurück in ihre braunen Augen stahl, ließ ihn lächeln. Manchmal war es so einfach, Isabelle glücklich zu machen. Und nur darauf kam es in diesem Moment an.
»Dein Lagerfeuer-Lied, was du neu geschrieben hast. Es klingt so wunderschön.«
»Okay«, grinste er und erntete dafür eine dicke Umarmung.
Gemeinsam gingen sie in ihr Zimmer zurück, wo sich Isabelle ins Bett kuschelte, während sich Joshi auf dem Teppich niederließ und leise zu spielen begann. Wenn sie so da saß und ihn anschaute, wurde ihm wieder bewusst, wie jung sie noch war. Mit zwölf Jahren sollte man nicht ohne seine Mutter sein, man sollte überhaupt nie ohne seine Mutter sein, aber vor allem nicht mit zwölf. Isabelle brauchte jemanden, der für sie da war und er hatte sich geschworen, dieser jemand zu sein. Und jetzt? Ließ er sie bald allein, weil er der Meinung war auf Reisen gehen zu müssen. Was, wenn ihr etwas zustieß? Wenn die Probleme in der Schule stärker wurden, wie bei ihm damals? Da war sie wieder, die aufkommende Angst, einen Fehler zu begehen. Innerlich schüttelte Joshi den Kopf. Nein, Isabelle hatte noch Nele und ihren Vater. Und auch, wenn seine andere Schwester sich nach außen hin cool und abweisend gab, so wusste er dennoch genau, dass sie sich immer auf die Seite ihrer Familie stellen würde.
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