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Leseprobe "Night Biker"

Prolog
Shadow
Schattenhaft. Ich denke, das beschreibt ziemlich gut die Art und Weise meines Daseinszustandes auf dieser Welt. Es war, als wäre ich ein Geist gewesen. Ein lebendiger Geist. Denn wenn doch einmal der Moment eingetroffen war, dass mich jemand wahrnahm, dann hatte ich die Angst in ihren Augen gesehen. Angst oder Verachtung. Es ist einfacher, Gerüchten zu glauben, als sich selbst ein Bild zu machen. Im Grunde hätte ich tot sein können. Einen Unterschied für die anderen hätte es wohl kaum gemacht. Vermutlich wären sie sogar dankbar dafür gewesen. Ein Freak weniger auf dieser Erde. Irgendwann hatte ich angefangen, mir selbst zu beweisen, dass ich noch nicht tot war, sondern ein Mensch mit fließendem Blut, atmender Lunge und schlagendem Herzen. Noch. Die Narben sind der Beweis. Der Beweis, dass das Leben noch nicht bereit war, mich loszulassen. Auch unter der Farbe auf meiner Haut konnte ich sie deutlich erkennen. Sie erinnerten mich täglich daran, dass das nun einmal mein Leben war. In die Dunkelheit und Einsamkeit verbannt. Irgendwann hatte ich verstanden: Ich war nicht dazu geboren worden, auf der Sonnenseite des Lebens zu wandeln. Ich war ein Schatten, der im Hintergrund handeln musste, und mehr würde ich auch nicht mehr werden. Nicht in diesem Leben – solange es mich noch wollte.


Kapitel 1
Leonie

»Ich brauch Ferien! Wie lange kann sich bitte ein Semester hinziehen?«, stöhnte Caro und stellte ihr Tablett vor mir auf den Mensatisch.
Stirnrunzelnd betrachtete ich den darauf befindlichen Teller Lasagne. »Wird das nicht langweilig, jeden Tag das Gleiche zu essen?«, fragte ich meine beste Freundin, ohne auf ihre Nörgelei einzugehen.
»Nö. Außerdem ist es das einzig Essbare, was um diese Zeit noch übrig ist. Dafür, dass die Uni-Mensa angeblich bis abends geöffnet hat, ist um zwei Uhr nur noch erstaunlich wenig da.« Ich nickte, denn in diesem Fall hatte Caro recht. Mein Blick glitt zu dem undefinierbaren Berg von Blumenkohl-Curry mit Bulgur, welches ich gerade eben so ergattert hatte. Allein der Anblick ließ mich meinen Hunger schlagartig vergessen.
»Also?«
Ich blickte hoch. Ihre Augen musterten mich erwartungsvoll. »Hm?«
»Gibt es was Neues von der Männerfront?«
Ich rollte genervt mit den Augen. Aktuell gehörte es zu Caros Lieblingsthemen, über mein Sexualleben zu sprechen und sich wieder wie ein Teenager zu verhalten. Ich hatte eigentlich gedacht, in unserem Alter wäre man da ein wenig rausgewachsen. »Nein, und darüber bin ich ganz froh. Ich weiß ja nicht, warum dir das so wichtig ist, aber ich komme als Single sehr gut zurecht, Caro!«
Sie stülpte ihre Lipglosslippen gespielt beleidigt nach vorne. »Ach, komm schon! Wer wünscht sich nicht, am Morgen neben seinem Seelenverwandten aufzuwachen und am Abend in beschützenden Armen einzuschlafen?«
»Ich!«
»Falsch! Jeder wünscht sich das, du willst es nur nicht wahrhaben. Du gibst dich nach außen hin tough und stark, aber innerlich bist du wie ein zarter, zerbrechlicher Vogel, der sich eine Hand wünscht, die ihn vor allem Schlimmen auf der Welt bewahrt. Und dann, eines Tages – bähm! – ist er da. Dein Traumprinz!« Mit optimistischem Ausdruck schob sich Caro ein Stück Lasagne in den Mund. Ich sah sie einige Augenblicke mit gehobenen Augenbrauen an, bis sie schließlich kapitulierte. »Ja, gut, okay. In deinem Fall ist es vielleicht anders und du bist kein zartes Vögelchen, das beschützt werden will. Aber ich, ich will es ganz doll. Sieh doch nur, wie zart und verletzlich ich bin!« Mit einer theatralischen Geste lehnte sie sich nach hinten und deutete eine bühnenreife Ohnmacht an. Ich prustete beinahe das Wasser wieder aus, welches ich gerade aus meiner Flasche genommen hatte.
»Du hast echt einen Knall, Caro«, sagte ich lachend, sobald ich wieder Luft bekam. »Nur gut, dass du nicht Psychologie studierst. Deine Menschenkenntnis ist echt fatal. Daran musst du bis zum Masterabschluss auf jeden Fall noch arbeiten. So, können wir jetzt bitte das Thema wechseln?«
»Okay.« Eine weitere Gabel Lasagne verschwand in Caros Mund. »Also, was hast du für heute geplant?«
»Nach der Uni fahr ich zum Skatepark, noch ein wenig üben. Du?«
»Oh, vielleicht taucht er ja heute auf!« Ihre Augen glitzerten erwartungsvoll. Ich runzelte die Stirn. Wer sollte auftauchen? »Na, dein Traumtyp«, deutete sie meinen Blick richtig. Frustriert ließ ich meine Stirn auf die Tischplatte sinken und titschte drei Mal auf. Warum nur konnte mich Caro mit diesem Thema nicht in Ruhe lassen? Wir waren erwachsen und keine hormongesteuerten Jugendlichen mehr. Mittlerweile gab es andere Prioritäten – zumindest für mich. Ich wollte nur noch dieses nervige Studium hinter mich bringen und dann mein eigenes Ding machen. Je eher, desto besser. Zum Glück war ich nicht mehr allzu weit davon entfernt.
Das Tippen von Caros Zeigefinger auf meiner Schulter ließ mich den Blick wieder heben. »Da hinten sitzt übrigens Paskal.« Der Name war mir nicht fremd, denn in den letzten Wochen hatte Caro ihn nicht nur einmal in den Mund genommen. Paskal war ein Kommilitone von Caro, zwei Semester über uns und hatte zwei Mal gemeinsam mit uns in der Bibliothek gelernt. Außerdem belegte er ein Modul zusammen mit Caro. Ein lockerer und entspannter Typ, Kategorie Surfer, aber definitiv nicht mein Fall. Als ich mich trotzdem zu ihm umdrehen wollte, hielt sie mich am Oberarm fest. »Nicht gucken!« Kurz darauf lachte sie gekünstelt. Auf meinen verwirrten Blick hin raunte sie: »Sonst fällt doch auf, dass wir über ihn reden. Los, lach mal, dann sieht es so aus, als ob ich etwas Witziges gesagt hätte.« Ich schüttelte den Kopf. Wenn ich lachte, dann würde sich die ganze Mensa nach uns umdrehen. Meine schauspielerischen Fähigkeiten waren mehr als ein Desaster. Besser also, ich ließ sie, wo sie waren. »Wie sehe ich aus?«
»Du siehst toll aus, Caro. Wie immer«, bestätigte ich ihre Frage, wissend, dass sie genau das hören wollte, und sah an dem Grinsen in ihrem Gesicht, dass es wirkte. Dann fiel auch der Groschen endlich bei mir und mir wurde bewusst, warum Caro derzeit so oft das Männerthema in den Raum warf – beziehungsweise Paskals Namen. Sie war verknallt, und zwar bis über beide Ohren. Es waren also doch Hormone im Spiel.
Mit einer flinken Bewegung schleuderte Caro sich das lange schwarze Haar nach hinten, stand auf und schob sich den Henkel ihrer Tasche auf die Schulter, womit sie mich zurück in die aktuelle Situation holte. »Ich muss dann jetzt auch los zum Kurs, Süße. Wir treffen uns nachher am Kaffeeautomaten, ja?« Mit diesen Worten schnappte sie sich ihr leeres Tablett und stolzierte mit übertriebenem Topmodel-Gang an mir vorbei. Wenn ich Caro nicht besser kennen würde, würde ich denken, sie wäre die größte und arroganteste Zicke der Welt. Sie verkörperte dieses Klischee in absoluter Perfektion. Aber ich wusste, dass all das nur Show war und sie die Aufmerksamkeit genoss. Egal, ob sie guter oder schlechter Art war, Hauptsache, sie fiel auf. Ich schaute ihr schmunzelnd hinterher und nutzte die Bewegung gleich, um nach Paskal Ausschau zu halten, doch er war weg. Vermutlich war er ihr gefolgt. Die Mensa war mittlerweile fast vollkommen leer und mein Essen kalt. Da ich es nicht über mich brachte, das Zeug jetzt noch herunterzuwürgen, stand ich ebenfalls auf und brachte mein Tablett weg. Zwei Seminare standen mir noch bevor, dann konnte ich endlich hier raus.


Wie immer fühlte es sich an, als würde jemand eine schwere Last von meinen Schultern nehmen, als ich endlich aus dem Unigebäude treten durfte. Gierig sog ich die frische Luft der Natur ein, während ich mich auf den Weg zu meinem Fahrrad machte. Ich hatte noch etwas Zeit, bis meine Eltern mich zum Abendessen erwarteten, daher würde ich auf dem Weg am kleinen Skatepark haltmachen und ein wenig meine Sprünge trainieren. Dort angekommen stellte ich – sehr zu meinem Glück – fest, dass es dort recht leer war. Ich warf im Vorbeifahren meinen Rucksack neben der Halfpipe auf den Boden und fuhr anschließend mit dem Rad direkt auf die Betonkurve. Ich bewegte mich ein wenig hin und her, bis ich die nötige Geschwindigkeit hatte, ehe ich mich an die komplizierteren Sprünge wagte. Derzeit trainierte ich für den Backflip mit Schraube, doch dafür war die Halfpipe hier beinahe zu klein, da sie eigentlich für Skater gemacht war. Der große Park war für heute aber zu weit entfernt. Trotzdem lief das Training ziemlich gut und ich arbeitete vermehrt an meinen kleineren Tricks, wie zum Beispiel an der Drehung auf dem Vorderrad.
Biken war wie das Eintauchen in eine völlig andere Welt. Keine Gedanken an die Uni, meine nörgelnden Eltern oder Caros ständige Schwärmereien. Hier war ich einfach nur ich – frei und unabhängig.

Keuchend versuchte ich einen Trick nach dem anderen. Drei Mal schaffte ich es gerade noch, mich abzufangen, bevor ich unkontrolliert auf dem Boden auftraf. Trotzdem hatte ich am Ende zwei blaue Flecken und einen aufgeschürften Ellenbogen mehr vorzuweisen. Das hielt mich aber natürlich nicht davon ab weiterzumachen und am Ende schaffte ich es tatsächlich in den Salto, auch wenn ich anschließend rückwärtsfahren musste, weil die Zeit für die Schraube nicht gereicht hatte. Ich strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Immerhin versuchte ich das schon eine ganze Weile in diesem kleinen Park. Ein Blick auf meine Uhr ließ mir allerdings schlagartig das Lächeln im Gesicht gefrieren. Es war Viertel vor sechs. In fünfzehn Minuten stand das Abendessen auf dem Tisch und meine Eltern erwarteten, dass ich anwesend war. Pünktlich. Shit! Normalerweise brauchte ich zwanzig Minuten nach Hause, also würde ich mich ziemlich beeilen müssen.